Reisetagebuch Indien 11.11.2014
Ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren, als der Fahrer die Endstation ausrief. Irgendwo im Nirgendwo, zumindest sah das früh um 5 so aus, zwischen überquellenden Mülltonnen und stinkenden Abfallhaufen, die von Kühen und Hunden durchwühlt wurden, spukte der Bus die letzten paar Fahrgäste aus. Glücklicherweise auch eine tibetische Nonne, die das gleiche Ziel hatte wie ich. Ein paar Meter weiter fanden wir ein Taxi, das uns dann hoch nach McLeod Ganj zum Eingang des Tempels brachte.
Irgendwie hatte ich mir das alles ganz anders vorgestellt. Das Tempeltor war eher unscheinbar, dafür waren auch hier die Müllberge, die sich davor häuften, nicht zu ignorieren. Kleine Wellblechhütten, die sich bei Tageslicht als Verkaufsstände für Gebetsketten und Katas, für Armbänder und Amulette, entpuppten, säumten den unbefestigten Weg. Das also soll der Ort sein, den sich Seine Heiligkeit als neue Heimat ausgesucht hatte?
Die Nonne zeigte mir den Weg zum Büro, wo ich einen Eintrittspass erhalten kann. Bereits am Haupttor mußte ich Kamera, Handy und Laptop abgeben. Da war ich nun in einer ganz anderen Welt, einer zeitlosen Welt, wo sich Prioritäten verschieben, wo bisher Wichtiges plötzlich ganz unwichtig erscheint. Mönche und Nonnen in ihren roten Gewändern liefen geschäftig, aber ohne Eile umher. Der Duft von frischem Brot zog durch die engen Tempelgassen. Mittlerweile war es kurz nach 6. Der erste Streifen Tageslicht drang durch die Bäume in den Hof vor der Sicherheitsschleuse. In aller Aufregung hatte ich meine Passfotos in Nepal vergessen. Diese sind jedoch eine der Voraussetzungen, um einen Eintrittspass für die Unterweisungen zu erhalten. Sollte jetzt wirklich alles so kurz vor meinem Ziel an meiner Schussligkeit scheitern? Die Sicherheitsleute waren zwar steng, aber sehr hilfsbereit und mitfühlend. Sie gaben mir den Tipp, dass ich mir im Ort schnell ein paar Passfotos machen lassen und dann zurückkommen kann. Es wäre nicht so schlimm, wenn ich nicht pünktlich zu Beginn der Unterweisungen da wäre.
Noch immer war ich voll bepackt mit meinem kompletten Reisegepäck. Also galt es nun, die Zeit bis zur Öffnung des Fotoshops zu überbrücken und mir eine Bleibe zu suchen. Gasthäuser und Hotels gibt es hier zuhauf, aber in diesen frühen Morgenstunden ist es trotzden schwierig, ein offenes Haus zu finden. Also wanderte ich wie ein Packesel durch McLeod Ganj. Aber nicht hin und her – nein! Hoch und runter geht es hier in diesem Ort an den Hängen des Dhaulagar. Mehr als einmal bin ich keuchend zusammengeklappt, denn aufgrund der vielen Achterbahnfahrten der letzten Tage konnte ich kaum etwas essen.
Erleichtert fand ich nach über einer Stunde ein offenes Haus. Der Gastwirt hatte zwar im Moment kein Zimmer frei, bot mir aber einen kleinen Ruheraum an, wo ich mich etwas ausruhn und frisch machen konnte. Wenn ich dann von Tempel zurück sein werde, könne ich dann mein Zimmer beziehn. An Ausruhen war allerdings nicht zu denken. Ich war total übermüdet und schlapp, aber jetzt hatte ich es bis hierher geschafft, nun wollte ich auch so schnell wie möglich Seine Heiligkeit sehen.
Als ich zwei Stunden später den Tempel zum zweiten Mal betrat, hatte sich die Szenerie komplett geändert. Hunderte von Mönchen, Nonnen und ausländischen Besuchern strömten durch das Tor. Am Schalter für die Eintrittspässe hatten sich lange Schlangen gebildet. Eine knappe Stunde später durfte ich die Sicherheitsschleuse passieren.
Schon auf dem Weg in die Gebetshalle hörte ich ‚Seine‘ Stimme aus den Lautsprechern. Auf den Bildschirmen sah ich ‚Seine‘ bekannte Gestalt, das verschmitzte Lächeln, die gütigen Augen… Tausende Gläubige hatten sich versammelt, um seinen Unterweisungen zu folgen. Dichtgedrängt saßen diese über das gesamte Gelände verteilt. Ich bahnte mir einen Weg bis nach oben vor den Thronsaal…
Als ich Ihn dann endlich vor mir sah, fiel die ganze Anspannung der letzten Tage von mir ab und brach in einem Strom von Tränen aus mir heraus. Ein tiefes Glücksgefühl und eine Woge der Dankbarkeit durchströmten mich in diesem unvergesslichen Moment. Wohl zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich so bewusst innige Demut.
Es war völlig unbedeutend für mich, dass mein kleiner Radioempfänger für die Übersetzung nicht funktionierte. Mir reichte es völlig, im JETZT und HIER zu sein. Sein großer Geist und seine Präsenz zogen mich vom ersten Augenblick in seinen Bann. Aber auch sein unbeschwertes Kichern, wenn er einen Scherz gemacht hat.
Ein menschlicher Gott? Ein göttlicher MENSCH!