Manchmal erscheint er zum Greifen nah, manchmal ist er hinter einer dicken Wolkendecke verborgen. Manchmal erscheint er freundlich und einladend, dann wieder bedrohlich und düster. Je nach Witterung und Tageszeit wechselt er sein Aussehen, wirkt jedoch stets magisch und geheimnisvoll – der Shivapuri.
Sein Gipfel ist von hier unten schwer auszumachen, ist er doch von einer Hügelkette umgeben, die sich nur bei klarer Sicht und entsprechendem Licht plastisch zeigt. Am liebsten mag ich ihn frühmorgens und nach dem Monsun, wenn dichter Nebel aus seinen Flanken emporsteigt und so die Konturen der Hügelkette sichtbar werden. Bereits das dritte Jahr lebe ich nun hier in Budhanilkantha an seinem Fuß und genieße es, allmorgendlich an seinen Hängen spazieren zu gehen und die Natur auf mich wirken zu lassen. Auf dem Gipfel jedoch war ich noch nie – Zeit dies zu ändern!
Allzu schwer dürfte der Weg nicht sein. Und so erzählte ich Tashi von meinem Plan, dieses Jahr nun endlich den Shivapuri Peak zu erklimmen. In der Karte sind einige Armeestützpunkte eingezeichnet, so dass ich mich durchaus sicher fühlte. Die könnten mich ja vor den Leoparden und anderen wilden Tieren, die in den Tiefen des Waldes leben, beschützen. Tashi riet mir jedoch nachdrücklich von einem Alleingang ab. In den letzten Jahren waren gerade in diesem Gebiet mehrere alleinreisende Frauen abhanden gekommen. Sie waren offensichtlich nicht den wilden Tieren, sondern den ausgehungerten Soldaten zum Opfer gefallen.
Ich ließ mich überzeugen und fragte den Fotografen Chandra, ob er mich begleiten würde. Er war sofort begeistert, da er in dieser Gegend auch noch nicht war und sich ein paar außergewöhnliche Aufnahmen erhoffte. Am Samstag starteten wir am frühen Nachmittag, damit wir rechtzeitig vor Einbruch der Dunkelheit die Nagi Gomba, ein buddhistisches Kloster, erreichen konnten.
Die erste Hälfte des Weges führte über eine gut ausgebaute Sandpiste, so dass die Schwierigkeit nur darin bestand, die gleißende Sonne auszuhalten, während wir durch lockeren Kiefernwald immer höher stiegen. Auf dem ersten Kamm angekommen, fanden wir eine kleine Siedlung, wo wir etwas zu Essen und Trinken bekamen. Das war eine völlig andere Welt als ein paar Hundert Höhenmeter tiefer an unserm Ausgangpunkt. Auch hier hatte das Erdbeben einige Steinhäuser zerstört, so dass ein Teil der Menschen in provisorischen Hütten lebten. Aber sie hatten sich verhältnismäßig gut eingerichtet und können so den Winter überstehen. Auch die unbeschädigten Hütten zeugten von einem harten Leben. Schon allein die Tatsache, dass alles vom Tal hochgeschleppt werden musste, ließ meinen Respekt den Menschen hier gegenüber enorm anwachsen. Und dennoch beneidete ich sie ein klein wenig um die unaufgeregte und friedliche Stimmung, die hier herrscht.
Nach dieser Siedlung führte uns der Weg ebenfalls über sandiges Gelände. Wir mussten uns teilweise einen Weg durch niedriges Gestrüpp suchen. Bei guter Sicht hätten wir sicher einen herrlichen Ausblick von hier aus gehabt, allerdings ist die Luft im Kathmandutal wieder dermaßen verschmutzt, dass wir nur wie durch einen dichten Schleier sehen konnten. Irgendwann kamen wir auf die Sandpiste, die als Zubringerweg zur Gomba dient. Erdbeben und Monsun hatten hier einen mächtigen Erdrutsch verursacht. Mittlerweile hatte man aber schon damit begonnen, durch Stein-Packs das Gelände zu stabilisieren. Dennoch war uns etwas mulmig, als wir auf der Abbruchkante entlangbalancieren mussten.
Nach drei schweißtreibenden Stunden und 800 Höhenmetern hatten wir unser heutiges Tagesziel erreicht. Als ich jedoch die alte Gomba sah, musste ich schwer schlucken. In dieser wunderschönen Gebetshalle war ich bereits im letzten Jahr eingekehrt und hatte vor der kostbaren Buddhastatue eine große Butterlampe entzündet. Nun stand nur noch die schwer beschädigte Hülle dieses Gebäudes. Im Inneren lagen Schutt und eingestürzte Balken, deren kunstvolle Ornamente mit einer dicken Staubschicht bedeckt waren.
Etwas oberhalb, hinter dem neuen, bereits damals schon im Bau befindlichen Wohnheim, gibt es jedoch ein weiteres Gebäude, das mir damals gar nicht aufgefallen ist. Dieses ähnelt ganz stark der alten Gomba. Gerade als wir mit Chandra die letzten Stufen emporstiegen, strömten zahlreiche Nonnen aus dem Gebetssaal. Wir baten um ein Nachtlager und wurden von einer Nonne unter ihre Fittiche genommen.
Da hier öfters Pilger oder vereinzelt auch Wanderer vorbeikommen, hatte man sich darauf eingestellt und ein paar Räume als Unterkunft hergerichtet. Wie wir später feststellten waren wir auch nicht die einzigen Gäste. Beim gemeinsamen Abendessen in der Klosterküche waren wir insgesamt 8 Gäste, davon zwei junge Frauen aus Deutschland, die für ein paar Tage zur Einkehr hier weilten. Da dies ein reines Nonnenkloster ist, mussten die Männer in einem separaten Haus übernachten.
Unsere ‚Any‘ erklärte uns, dass jeden Morgen um 5:30 eine Puja stattfindet und wir dazu herzlich eingeladen sind. Wenn ich schon mal die Chance habe, in einem Kloster zu übernachten, dann möchte ich auch so gut es möglich ist, an allen Zeremonien und Ritualen teilnehmen.
Auch wenn das Bett überraschend bequem war und die Umgebung hier auf dem Berg mehr als still war, habe ich recht unruhig geschlafen. Als dann um 5 der Wecker klingelte, war ich für einen Moment versucht, ihn einfach zu ignorieren und auf die Puja zu verzichten. Doch ich kenne mich und weiß, dass ich mir solche ‚Nachlässigkeiten‘ nie verzeihe.
Als ich kurz darauf die Gebetshalle betrat, war diese noch nahezu leer. Das gab mir die Möglichkeit, mich ungeniert umzuschauen und die typische Architektur, die kunstvollen Wandmalereien und die großen vergoldeten Buddhastatuen zu bewundern. Wie jedes Mal, wenn ich solch einen Ort betrete, umfängt mich eine ganz besondere Stimmung. Auf den langen Bänken, die rechts und links vom Mittelgang plaziert sind, waren die schweren dunkelroten Gebetsmäntel derart platziert, dass man im ersten Moment nicht wußte, ob da ein Mönch oder eine Nonne drinsteckt oder nicht.
Ich setzte mich auf eine der Matten, die für Gäste an der hinteren Wand entlang ausgelegt waren. Nach und nach füllte sich der Raum. Die Nonnen vollzogen am Eingang mehrere Niederwerfungen, gingen dann zu ihrem Platz, wo sie sich die Gebetsmäntel umlegten und dann niederließen. Manche hatten eine Thermoskanne mit Tee dabei, manche ein paar Räucherstäbchen oder andere Opfergaben. Jede von ihnen hatte ihr eigenes Gebetsbuch mit, das aus einem länglichen Stapel Blätter besteht, die zwischen zwei kunstvoll verzierte Holzplatten gepresst und in ein eigens dafür angefertigtes Seidentuch gewickelt werden.
Punkt halb 6 begann eine der Nonnen, ein Mantra zu murmeln, in das die anderen einstimmten. Schon damals, als ich in Bangkok in einem Tempel die Traditionelle Thai-Massage erlernt habe, hat mich diese Art des Betens beindruckt und fasziniert zugleich. Auch wenn ich nicht verstand, was da gerade aufgesagt wird, so nimmt mich der Rhythmus und die wohlklingenden Laute eines solchen Mantras gefangen. Zwischendurch wiederholten sich mehrfach Passagen, wo der große Gong geschlagen und die langen Tempelhörner, ähnlich einem Digeridoo, geblasen werden. Ich fühlte mich ganz bei mir, in einer anderen Welt, gleichzeitig geborgen und sorgenfrei.
Nur das Kribbeln in meinen Füßen holte mich zwischendurch immer wieder in die Wirklichkeit zurück und ich war froh, als ich nach anderthalb Stunden endlich aufstehen konnte. Ich sitze auch daheim oft und gern mit verschränkten Beinen, jedoch nie so lange unbewegt, wie die buddhistischen Mönche und Nonnen. Ich frage mich jedes Mal, ob es da wohl einen Trick gibt.
Immer wieder, wenn ich solche Zeremonien verfolge, fällt mir auf, wie entspannt und keinesfalls weniger andächtig es dabei zugeht. Im Gegenteil, dadurch wirkt der Glaube dieser Menschen auf mich viel ernsthafter und ehrlicher.
Halb acht trafen wir Gäste uns dann zum gemeinsamen Frühstück, das zwei Klosterschülerinnen liebevoll für uns zubereitet hatten. Diese Stärkung tat gut, hatten wir doch noch ein gutes Stück Weg bis zum Gipfel vor uns. Doch davon erzähle ich euch das nächste Mal…