In Nepal ticken nicht nur die Uhren anders, hier gibt es auch eine andere kalendarische Zeitrechnung. Mittlerweile habe ich mich an den offiziellen Bikram Sambat Kalender gewöhnt. Dieser ist unserem Gregorianischen Kalender um 57 Jahre voraus und beginnt jeweils im April. Um zum Beispiel die Geburtsdaten unserer Patenkinder umzurechnen, bediene ich mich einer einfachen App.
Es gibt allerdings noch weitere Kalendersysteme auf dem Dach der Welt, so z.B. den Nepal Sambat. Dieser reine Mond-Kalender wird zumeist vom Stamm der Newar benutzt und beginnt jedes Jahr am 4. Tag des Tihar-Festes, dem Tag der Mha-Puja.
Zu ebendieser wichtigen Puja (Segenszeremonie) wurde ich zusammen mit Corinna ins Haus des Prinzipals der Bal Bikas Schule eingeladen. Wir waren natürlich aufgeregt, denn wir wussten weder, was uns erwartet, noch, wie wir uns verhalten sollen. Ich hatte mich vorher bei Bekannten erkundigt, welches Gastgeschenk zu solch einem Anlass angemessen ist.
Beladen mit zwei großen Tüten Früchten betraten wir gegen 18 Uhr die Dachterrasse des Prinzipal-Hauses. Dort leuchtete, glitzerte und flackerte es überall. Ähnlich wie bei uns zu Weihnachten sind zu diesem Anlass hier im Kathmandutal die Häuser festlich geschmückt. Das nimmt bisweilen sehr überbordende Formen an, so dass man denken kann, man befindet sich in Las Vegas.
Auf dem Boden waren lange Reihen Läufer mit Kissen ausgelegt. Jeder Platz war mit einem Mandala aus buntem Farbpulver gekennzeichnet. Inmitten dieses Mandalas lagen verschiedene Früchte, Nüsse und Ritualobjekte. Neben diesem Arrangement stand ebenfalls auf jedem Platz eine Schale mit Früchten, Gebäck, einer Blütenkette und einer Segensschnur. Ein jedes dieser Dinge hat seine besondere Bedeutung, die mir im Eifer des Gefechts im Detail entfallen ist. Das werde ich mal in Ruhe recherchieren. Ich wollte mit meinen Fragen die festliche Stimmung nicht stören. Allein die Ausgestaltung dieses Festplatzes hat mehrere Stunden in Anspruch genommen.
Entsprechend ihrem Rang nahmen nacheinander die einzelnen Familienmitglieder Platz, wobei der Prinzipal, das Familienoberhaupt, ganz vorn neben dem symbolischen Altar der Gottheit Ganesha saß. Auch für nicht anwesende Familienmitglieder waren die Plätze genauso reserviert und aufwendig gedeckt. Die Frau des Prinzipals hatte als Hausmutter die meiste Arbeit bei der ganzen Zeremonie. Es war wunderschön anzusehen, wie anmutig sich die doch recht füllige ältere Dame in ihrem farbenfrohen Sari bewegt.
Gleich zu Beginn verteilte sie mit Blütenblättern vermischte Reiskörner, die wir dem Gott Ganesha entgegenwerfen mussten, um ihm zu huldigen. Danach folgten weitere rituelle Handlungen wie das Entzünden eines Dochtes vor jedem Platz, dessen Flamme über die geopferten Früchte kriechen musste. Ungeübt, wie ich war, musste ich aufpassen, dass nicht gleich die ganze Deko Feuer fängt. Nachdem wir uns nach einer strengen Reihenfolge ein Segensband sowie eine Blütenkette umgelegt hatten, erfolgte der detailreiche Segen der Hausmutter. Wir bekamen eine Tika auf die Stirn gezeichnet, wurden mit Blütenblättern und Reis überschüttet und wurden an Knien, Ellenbogen und Schultern gesegnet.
Das mag vielleicht etwas ungewöhnlich klingen, aber das hat seinen guten Grund. Die Mha-Puja wid zelebriert, um den eigenen Körper zu reinigen, zu segnen, ihm zu danken, dass er uns bisher am Leben gehalten hat und um Gesundheit für die Zukunft zu bitten. Am Ende der Zeremonie gab es eine rituelle Speise gereicht. Auf einem Teigfladen waren ein kleiner getrockneter Fisch, etwas Rindfleisch und ein Ei angerichtet – symbolisch für die tierische Nahrung aus dem Wasser, vom Land und aus der Luft. In die andere Hand gab es ein Glas mit Rokshi, dem legendären Hirseschnaps. Nun galt es, als erstes das Ei zu essen, ohne es fallenzulassen und das Glas aus der anderen Hand abzustellen. Nach dem ersten Schluck Rokshi galt das Essen als gewöhnlich und konnte nun wie gewohnt verzehrt werden.
Dies alles wurde natürlich im Schneidersitz absolviert. Nach der knapp zweistündigen Zeremonie konnte ich meine Beine fast nicht mehr spüren. Die Hausmutter löschte nun mit geweihtem Wasser die noch immer brennenden Feuer und fegte symbolisch mit einem Besen über das ganze Szenario. Nun sah es tatsächlich aus wie auf einem Schlachtfeld. Überall lagen Reiskörner und Blütenblätter, Essensreste und das allgegenwärtige rote Farbpulver. Dies alles wird dann am nächsten Morgen gründlich zusammengefegt, in ein Gefäß geschüttet und zu einem heiligen Fluss gebracht um es so dem Kreislauf der Natur wieder zurückgegeben.
So oft ich auch schon in Nepal war, ich hatte noch nie die Gelegenheit, dieser für die Newars so wichtigen Zeremonie beiwohnen zu dürfen. Wie bei vielen anderen Pujas faszinierte mich auch hier wieder die Mischung aus lockerer Atmosphäre und religiöser Ernsthaftigkeit.
Ein Hoch auf das Jahr 1138!