Ein ganz normaler Tag?

 

Es war eine unruhige Nacht. Ich stehe am Waschbecken und spüle mir den Schlaf aus den Augen. Während ich mir die Haare kämme, fällt mein Blick auf meine Ohrringe. Die kleinen Mondsteine strahlen mich an. Ich weiß noch genau, wo ich sie gekauft habe. Ein kleiner Schmuckladen in den Gassen von Kathmandu, der Hauptstadt von Nepal. Ich erinnere mich an das Gespräch mit der Händlerin und ihrer Tochter. Wir haben uns über Indien unterhalten.

Bevor ich den Tag beginne, koche ich mir stets eine Tasse Tee, Tulsi-Tee. Aus Nepal. Er duftet köstlich und schmeckt nach Basilikum. Die Menschen in Nepal trinken diesen Tee als Medizin, denn er beugt vielen Krankheiten vor. Ich wärme mir meine Hände an der Tasse, bevor ich den Tee genieße.

Heute ist es kalt und regnet, deshalb verzichte ich auf meinen Morgenspaziergang und setze mich stattdessen an meinen Laptop. Ich beantworte Mails und recherchiere im Internet. Auf meinem Schreibtisch stapeln sich Prospekte und Unterlagen. Aus Nepal. Ich bereite die Info-Mappen für die Paten vor.

Immer wieder schweifen meine Gedanken ab. Neben dem Laptop sitzen zwei kleine Buddhas… Geschenke von Freunden. Aus Nepal. Den goldfarbenen Glücksbuddha schenkte mir eine kleine Kung-Fu-Kämpferin als Dankeschön, weil ich ihr Sportkleidung und Schulhefte besorgt habe. Der Teaching-Buddha ist ein Geschenk von Lobsang, dem Mönch, der in meinen roten Schuhen unterwegs zum Kailash war.

Irgendwann ist es Zeit für eine Mahlzeit. Ich schneide Brokkoli, Möhren und Kartoffeln in kleine Würfel und brate sie in Sesamöl. Zusammen mit einer geheimnisvollen Gewürzmischung wird daraus ein leckeres Curry. Das hat mir Lalita beigebracht, als ich für mehrere Monate in ihrem Haus gelebt habe. In Nepal. Nur heute will mir das Curry nicht so recht schmecken.

Das Telefon klingelt. Eine Redakteurin aus dem Vogtland wurde auf meine Initiative aufmerksam. Sie stellt mir Fragen. Über Nepal. Mails und SMS treffen ein, teilweise von Bekannten, zu denen ich lange Zeit keinen Kontakt hatte. Sie sorgen sich um mich und meine Freunde in Nepal. Ihre Anteilnahme berührt mich sehr.

Der Drucker spuckt die letzten Seiten aus. Ich habe Flyer erstellt, um auch die Menschen zu informieren, die kein Internet haben. Diese Flyer will ich noch schnell nach Schirgiswalde bringen, in den ‚Eine-Welt-Laden‘, der nun auch Schals und Taschen verkauft, aus Nepal. Zusammen mit meinem Sohn Tony haben wir die Werkstätten besucht und uns mit den Menschen unterhalten, in Nepal.

Ich muss mich beeilen, damit ich noch rechtzeitig im Laden ankomme und schlüpfe in meine warme Fleecejacke. Diese musste ich mir kaufen, weil ich die winterlichen Temperaturen total unterschätzt hatte, in Nepal. In den einfachen Häusern dort gibt es keine Heizungen, so dass mir die Jacke als Schlafanzug gedient hat. Die kleine Verkäuferin hat gelacht, als ich ihr erzählte, wofür ich die Jacke brauche.

Wie jeden Abend mache ich auch heute meine Runde und zünde in jedem Zimmer eine Kerze an. Seit Samstag eine mehr, vor dem großen bronzenen Buddhakopf, aus Nepal.

Es ist kalt in meiner Wohnung. Aber ich mag keine Heizung anstellen, wickel mich stattdessen in die kuschlige Decke aus Yak-Wolle. Ich erinner mich noch gut an den Tag, als ich sie von einer Sherpa-Frau gekauft habe. Ich habe ihr eine ganze Weile fasziniert beim Weben zugeschaut, damals, in den Bergen. In Nepal.

Eigentlich wollte ich heute an meinem neuen Reisevortrag weiterarbeiten. Es gelingt mir nicht, mich zu konzentrieren. Die Blütenketten, die mir unsere Patenkinder zum Abschied umgehängt haben. Die Gebetsfahnen an dem Baum vor meinem Fenster. Die Sarangi über meiner Couch, ein traditionelles Instrument, das mit kunstvollen Schnitzereien verziert ist. Die Zeichnung von Amir, die über meinem Schreibtisch einen Ehrenplatz bekommen hat. Das moderne Ölgemälde von Tashi. Das Thangka-Gemälde von Dipesh. Die tollen Fotos von Chandra. Die Zeichnung von Suman… und noch viel mehr!

Dies alles erinnert mich an die Heimat meines Herzens. An Nepal. Nur heute sind es schmerzvolle Erinnerungen, voller Sorge und Mitgefühl.

Ich weiß, dass ich auch heute nicht so gut schlafen werde. Trotzdem mache ich mich bettfertig. Während ich mir die Zähne putze, fällt mein Blick auf meine Ohrringe. Die kleinen Mondsteine strahlen mich an. Und in ihrem Strahlen blitzt ein kleiner Funke Hoffnung…

 

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