Über 500 Feste und Feiertage gibt es pro Jahr im nepalesischen Kalender. Einige davon nur in bestimmten Regionen, manche werden von vereinzelten Kasten gefeiert, einige von Frauen, manche von verschiedenen Berufsgruppen, manche nur zu einer bestimmten Stunde, manche tagelang… Da fällt es schwer, den Überblick zu behalten. Gilt es doch, wenigstens den wichtigsten der über 33 Millionen Götter angemessen zu huldigen.
Jetzt glaubt bloß nicht, dass die Götter nur in Form von Statuen und Gemälden in Nepal präsent sind. Nein! Hier gibt es sogar eine lebende Göttin – die Kumari. Diese wird von einem jungen Mädchen verkörpert und gilt als Inkarnation der Göttin Dhurga. Die Geschichte um diese Mädchengöttin ist dermaßen spannend, dass ich darüber in einem separaten Blogeintrag berichten werde.
Die Kumari verlässt nur an wenigen Tagen im Jahr ihren Tempel. Gestern war einer dieser besonderen Tage im Rahmen des Indra Jatra Festes, das alljährlich mehrere Tage lang zum Ende der Monsunzeit gefeiert wird. Wobei ‚gefeiert‘ noch maßlos untertrieben ist.
Eigentlich wollte ich Ben, unserm neuen Volontär, nur ein bissel was von Kathmandu zeigen und bin am Abend mit ihm zum alten Königsplatz gefahren. Ich hatte mich bisher noch nicht wieder an diesen Ort getraut, aus Angst, von meinen Emotionen überwältigt zu werden. Und so war es auch. Diesen von mir so geliebten Platz in Trümmern zu sehen, hat mich tief erschüttert.
Ich gab Ben einen kleinen Einblick in die Geschichte dieses Ortes und die dort herrschende Götterwelt. Gerade noch bummelten wir entspannt zwischen den Tempeln und kleinen Lädchen umher, waren wir nur wenige Minuten später in einem lauten, bunten Treiben gefangen, das mit bloßen Worten nicht zu beschreiben ist. Man muss es erleben!!!
Tausende von Menschen strömten innerhalb kürzester Zeit auf den Platz, Musikantengruppen droschen auf ihre Trommeln ein, so dass ein mystischer Rhythmus den Ort erfüllte. Kinder schrien, Frauen sangen und Männer grölten, offensichtlich angetrunken, umher. Letzteres hatte auch einen ganz besonderen Grund. Die Statue des Weißen Bhairavs stand im Mittelpunkt des Interesses der Männer, denn aus ihrem Mund floß den ganzen Tag Reisschnaps – von der härtesten Sorte! Um dem Gott zu huldigen, drängten sich unzählige Männer um das Rohr, um einen richtig großen Schluck des himmlischen Gesöffs zu ergattern. Mit nacktem Oberkörper lagen sie teilweise auf dem Boden vor der Statue, damit auch ja nichts davon ungenutzt im Sand versickert. Sie balgten sich um einen guten Platz, um immer wieder von dem Schnaps zu trinken. Die ganze Luft roch nach Alkohol, so dass man schon vom bloßen Zusehen betrunken wurde.
Es war mittlerweile schon finster geworden und der Platz des Spektakels wurde lediglich durch zahlreiche Butterlampen erhellt. Mit Schutzschild und Stöcken bewaffnete Polizisten versuchten mehr oder weniger erfolglos, der Meute Herr zu werden. Die Absperrungen wurden immer wieder durchbrochen, um einen Blick auf die Kumari und ihr Gefolge zu erhaschen. Es war eine prunkvolle als auch chaotische Prozession. Drei riesige, mehrere Meter hohe, prächtig geschmückte Kampfwagen, wurden an armdicken Seilen durch die engen Gassen der Altstadt gezerrt. Und wenn so ein Gefährt mal richtig in Schwung geriet, half oft nur ein beherzter Sprung in die Menge, um den eisenbeschlagenen Rädern zu entkommen.
Auf den ersten beiden Wagen thronten die Verkörperungen der Götter Ganesh und Bhairav, welche von zwei Buben dargestellt wurden. Der dritte und prachtvollste Wagen war der Kumari vorbehalten. Neben den Gottheiten tummelte sich auf jedem Wagen noch etwa 20 – 25 Männer. Jeder einzelne von ihnen hat sicher eine ganz besondere Funktion, die sich mir in dem Gewühl allerdings nicht so recht erschloss. Mir erschien es, als sollten die Gottheiten vor den Blicken der Menge geschützt werden. Wir hatten uns mit Ben bis vor die Bhairav-Statue durchgekämpft, da an dieser Stelle die Wagen für einige Minuten anhielten, um die Götter mit Reisschnaps zu versorgen und die Statue zu segnen. Ich war wie in Trance und habe solange mit den Polizisten herumgeschäkert, bis sie mich durchgelassen haben und schwups, stand ich für einen Moment auf der Deichsel eines solchen Kampfwagens und konnte die Kumari aus nächster Nähe sehen. In dem Moment war es mir auch egal, ob die Kamera gerade ausgelöst hatte oder nicht. Dabeisein ist alles!
Von den Wagen aus wurde auch kräftig Reisschnaps verspritzt, so dass ich gestunken habe, als käme ich aus einer Destille. Als ich vor zwei Jahren dieses Fest zum ersten Mal erlebt habe, war es schon gigantisch. Aber gestern empfand ich es als besonders spektakulär. Ich freue mich riesig für Ben, dass er dieses so besondere Event an seinem ersten Tag in Nepal miterleben konnte. Auf der Heimfahrt mussten wir dann höllisch aufpassen, dass uns die vom edlen Gesöff Gezeichneten in den engen Gassen nicht unter die Räder kommen. Was für ein Tag – darauf ein Everest-Bier!