Wer ist eigentlich die Kumari?

Das rot-goldene Ornament mit dem ‚3. Auge‘ bedeckt die ganze Stirn. Die Augen sind mit einem dicken Lidstrich verziert, der bis zum Haaransatz reicht. Das Gesicht ist maskenhaft starr und wird von einem schweren, ebenfalls rot-goldenen Kopfschmuck umrahmt. Üppige Gold- und Blütenketten schmücken das Gewand. So begegnete ich der Kumari zum ersten Mal – als Foto auf der Hülle des Stadtplanes von Kathmandu.

Dieses Bild hat mich sofort in seinen Bann gezogen und vor allem neugierig gemacht. Wer verbirgt sich hinter dieser Maske? Was hat es mit diesem Mädchen auf sich? Wo kann ich sie finden? Je mehr Fragen ich beantwortet bekam, desto mehr neue Fragen taten sich auf. Ich persönlich finde die Geschichten und Legenden, die sich um die Kumari ranken,  erschreckend und faszinierend zugleich.

Nepal gilt nicht umsonst als das Land der Götter. Eine ganz besondere Gottheit ist die Kumari – die lebende Göttin. Sie gilt als Inkarnation der Rachegöttin Dhruga, die ihrerseits eine Form der Hindu-Göttin Talejuh ist, und wird von einem jungen Mädchen verkörpert.

Dieses Mädchen wird im Alter von etwa 3 Jahren anhand ihres Geburtshoroskops ausgewählt und stammt stets aus der angesehenen Kaste der Newars. Des Weiteren muss das Kind 32 Merkmale aufweisen, um sich als Göttin würdig zu erweisen. Zum Beispiel muss es ‚die Wimpern einer Kuh‘, ‚glattes, sich nach rechts drehendes Haar‘ und ‚einen Hals, wie eine Muschel‘ haben. Ist dann ein Mädchen gefunden, wird dieses von seiner Familie entfernt und in das ‚Kumari Bahal‘ am Rand des Königsplatzes gebracht. Was für die Familie eine übergroße Ehre darstellt, ist für solch ein kleines Kind ein recht zweifelhaftes Vergnügen. Auch der große Luxus, in dem das Mädchen jetzt lebt, ist sicher kein Ersatz für ihre Eltern und Geschwister.

Viele Rituale rund um den Kumari-Kult sind bis heute noch geheim und dürfen nicht nach außen dringen. Deshalb ist es auch umstritten, ob die Kumari vor ihrer Inthronisierung noch bestimmte Prüfungen zu bestehen hat. So wird berichtet, dass diese 3 Nächte lang in einem absolut finsterem Raum mit frisch geschlachteten Opfertieren verbringen muss. Zeigt sie dabei keine Furcht, steht dem Weg auf den Thron nichts mehr entgegen.

Die kleine Göttin lebt von nun an von der Außenwelt abgeschieden im Kumari-Bahal und empfängt dort Pilger und Staatsmänner. Sie darf dabei weder sprechen noch lachen. Jede Regung von ihr wird als Orakel gedeutet und muss dann als Ausrede dafür herhalten, wenn im Land Unglücke geschehen oder die politische Lage eskaliert. Einmal schlief sie während einer solchen stundenlangen Audienz ein. Als kurz darauf einer ihrer Gäste versstarb, wurde das darauf zurückgeführt.

Die Kumari darf nicht mit anderen Kindern spielen oder gar draußen herumtollen. Sie bekommt nur rudimentären Unterricht von einem Privatlehrer und hat nahezu keine Kontakte mit Gleichaltrigen. Nur an wenigen Tagen im Jahr darf die Kumari ihr Haus verlassen. Da ihre Füße als heilig gelten, dürfen diese den Boden nicht berühren. Eine Handvoll Diener sind nur damit beschäftigt, vor ihren Füßen weiße Tücher auszulegen und hinter ihr wieder einzusammeln. Sie wird an solch hohen Feiertagen in einem goldenen Wagen durch die Altstadt gefahren, wo tausende Menschen auf ihr Erscheinen warten. Sobald sich die Kumari in irgendeiner Form äußern möchte, ob durch Mimik oder Worte, wird mit rot-goldenen Tafeln ihr Gesicht abgeschirmt, damit nichts als Omen gedeutet werden kann.

Sobald die Kumari das erste Mal blutet, sei es durch eine Verletzung oder spätestens bei ihrer Menstruation, gilt sie fortan als unrein und muss den Tempel verlassen. Einige Monate später fängt die Suche nach einer neuen Mädchengöttin an und der Kreislauf beginnt von vorn.

Für die Mädchen ist es ein harter Schock, wieder in das einfache Leben ihrer Familien zurückzukehren. Sie konnten keinerlei Bindung zu ihnen aufbauen und fühlen sich oft ausgegrenzt. Sie müssen lernen, soziale Kontakte zuzulassen und versuchen, Schulbildung nachzuholen. Auch wenn die ehemaligen Kumaris eine kleine Pension vom Staat erhalten, so tröstet dies nicht über die Tatsache hinweg, dass diesen Mädchen eine eigene Familie versagt bleiben wird. Kein nepalesischer Mann wird um die Hand einer ehemaligen Kumari anhalten, hat er doch Angst davor, ein Teil des Geistes der Rachegöttin Dhurga könnte sich noch in diesem Mädchen befinden.

Mein Freund Chandra stammt ebenfalls aus der Kaste der Newars. Er gehört zu der kleinen Gruppe von Menschen, die als ‚Kumari-Priester‘ fungieren und einen tieferen Einblick in diese Jahrhunderte alte Rituale haben. Ich freu mich schon auf unsere nächste Geschichtsstunde.

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